Shibui
von W.G. von Krenner
In Japan gibt es ein eigenes Wort, um den bitteren Geschmack einer unreifen Kaki-Pflaume [Frucht des Kakibaumes, Diospyros Kaki, aus der Familie der Ebenholzgewächse. A.d.Ü.] zu beschreiben. Dieser Geschmack wird «Shibui» genannt und beschreibt eine Empfindung, die weit über den Geschmackssinn hinaus geht. Manchmal wird Shibui mit «rustikale Einfachheit» übersetzt, manchmal auch als «strenge Eleganz». Shibui steht im engen Zusammenhang mit dem Begriff der Wahrheit und Schönheit wie sie im Zen und mit dem Zen verwandten Künsten verstanden wird. Es ist ein ästhetisches Konzept, das Kitsch und geschmacklose Kompliziertheit ablehnt.
Diejenigen unter uns, die über sich selbst hinauswachsen wollen und Aikido üben, um diesem Ideal näher zu kommen, sollten versuchen Shibui zu verstehen. Um zu wachsen und Achtsamkeit zu erlangen, sollten wir daran arbeiten Shibui zu begreifen und uns mit den Dingen, die Shibui besitzen, vertraut machen. Denn so gewinnen wir Einblick in das wahre Innere, das „So-Sein“, aller Dinge.
Wir nähern uns diesem Konzept, indem wir die Dinge betrachten, die sich außerhalb des Dojos befinden. Die friedliche Zusammenkunft des Cha-no-yo, der japanischen Teezeremonie, ist eine der vielen japanischen Künste, in deren Kern und Seele wir Shibui finden. Während des turbulenten 17. Jahrhunderts, als die Samurai durch die andauernden Kämpfe ständig vom Tod umgeben waren, würdigten sie die geheimnisvollen Gegensätze des Shibui in diesem strengen Ritual.
Die Utensilien der Teezeremonie, besonders die Teeschale (Chawan), wurden danach ausgewählt, wie gut sie zur Erreichung des Zustandes, nach dem Shibui und das Zen suchen, beitragen konnten.
Es wurde festgestellt, dass genau jene Utensilien am Besten zu Shibui beitragen, deren Aussehen und Beschaffenheit eine Atmosphäre der heiteren Gelassenheit begünstigt. Denn dadurch sind sie dem Selbst dabei behilflich sich von der negativen und zerstörerischen Außenwelt zu lösen. Die Ästhetik des Shibui einer Teeschale kann uns dabei helfen unseren eigenen Weg zu finden und uns unserer eigenen Ziele bewusst zu werden. Es sind genau jene Qualität und die Elemente, die einer Teeschale ihr Shibui verleihen, welche wir auch im Weg des Aikido suchen.
Eine Chawan mit Shibui zeichnet sich durch diese Eigenschaften aus: Einfachheit, Selbstverständlichkeit, Bescheidenheit, Stille, Natürlichkeit, Gewöhnlichkeit, Ungeschliffenheit, Stärke und Leere.
Wenn wir die Ziele des Weges hinterfragen, dann stellen wir fest, dass auch deren Perfektion den gleichen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Denken Sie an die großen Meister. Sie werden feststellen, dass diese Meister ihr Leben auf die gleichen Ziele ausrichten, wie ein vom Zen beeinflusster Töpfer seine Tonwaren gestaltet. Diese Meister erkennt man sofort: Sie schätzen die einfachen Dinge und meiden die Öffentlichkeit. Sie äußern sich einfach und klar – betonen die eigentliche Bedeutung der Dinge und das „So-Sein“ aller Dinge im Universum. Sie sind bescheiden, heischen nicht nach Anerkennung oder Belohnung ihrer Mühen für andere. Sie verehren Stille und Ruhe in einer Welt, in der heitere Gelassenheit nur selten zu finden ist. Sie bevorzugen einfache Dinge und handeln einfach und spontan, nicht mechanisch. Sie sind zufrieden und beklagen sich nicht. Manchmal sind sie grob, doch gleichzeitig raffiniert; mit menschlichen Schwächen, wie ein reparierter Schaden an einer Teeschale. Sie sind erfüllt von einer wunderlichen Leere, durch die sie die ganze Welt mit einer Aufmerksamkeit aufnehmen können, die uns ihnen nachstreben lässt.
Sie sind Krieger, die sich selbst besiegt haben und nun nicht mehr kämpfen müssen.
Die Beobachtung oder Übung irgend eines Rituals ohne ein tiefes Verständnis für dessen Zweck ist bedeutungs- und wertlos. Gutes Aikido und richtiges Training verspricht uns Zugang zu Stille, Präzision, Höflichkeit, Demut, Achtsamkeit und Selbstlosigkeit. Um uns diesen Idealen zu nähern, tun wir gut daran, über die Teeschale und andere große Kunst zu reflektieren, um selbst Shibui zu werden. Dies ist der bittere Geschmack harten Trainings, die Nuance verhaltener Schönheit in unserer Kunst.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder 04.08.2010.