Memoiren
von Walther G. von Krenner
Aus meinen Aufzeichnungen und meinen Erinnerungen: Lehren des Begründers
„Wer Aikido einfach für eine weitere Kampfkunst hält, wird sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verbessern können, egal wie viel er trainiert. Um diesen Leuten zu helfen, sollten die Shihan immer wieder über die spirituellen Aspekte des Aikido sprechen und ihre Bedeutung für die Waza (Technik) erläutern.
Du solltest den Schülern, besonders jenen oberhalb des Shodan-Grades, erklären, dass ihr Ki nur dann wachsen wird, wenn sie Anfängern helfen. Ein Shodan, der mit einem anderen Shodan trainiert, wird nicht lernen sein Ki zu erweitern, egal wie lange er übt. Doch sobald er mit Anfängern übt, wird sein Ki wachsen.“
Beachten Sie, dass er hier ausdrücklich über die Schüler oberhalb des Shodan spricht! Shihan oder Lehrer, die aus tiefer persönlicher Erfahrung und Verständnis über die spirituellen Aspekte des Aikido sprechen können, sind selten. Viele wiederholen leere Formeln und Ideen, die sie in Büchern gelesen haben, ohne dass deren Prinzipien ein echter Teil ihres Lebens wären. Ich habe hochrangige Lehrer getroffen (auch in Japan), die über Selbstdisziplin, Shugyo und hohe Ideale referieren, während sie vor die Tür des Dojos treten, um eine Zigarette zu rauchen oder zu trinken. Das ist traurig.
Einige dieser Lehren und Antworten sind im Zen lebendig. Im Rinzai-Zen habe ich
viele Antworten gefunden. Doch Vorsicht! Ziel dieser Lehren ist es, den Geist zu befreien und den wahren Geist zu finden. Tappen Sie nicht in die Falle: Achten Sie darauf, nicht einer weiteren Samsara-Illusion zu erliegen. Shihan Kenji Shimizu, der während meiner Zeit am Hombu-Dojo häufig O-Senseis Uke war, ist diesbezüglich sehr kompetent und hat viel auf diesem Gebiet gearbeitet. Er hat seinen eigenen Stil gegründet und lehrt diese Prinzipien. Sein Buch Zen and Aikido ist lesenswert.
O-Sensei rät mit Anfängern zu üben. Ich glaube, dass ist genau richtig. Anfänger bewegen sich natürlich und spontan. Ihre Technik kann völlig versagen.
Ist Ihre Technik jedoch auch bei einem Anfänger schön, fehlerlos und effektiv, während Sie ihn gleichzeitig vor Schaden bewahren, dann haben Sie die Technik verstanden.
Haben Sie schon einmal einen Lehrer gesehen, der eine Technik mit einem Anfänger vorführt? Nein, sie wählen Schüler, die das „Richtige“ tun: Schönes Ukemi nach einer statischen Technik, die in Wirklichkeit niemals funktioniert hätte.
Das ist kein Budo, sondern als Budo verkleidetes Ballett.
In der letzten Zeit habe ich einiges an Aikido gesehen, dass nur wenig Ähnlichkeit mit dem Aikido meiner Lehrer hat, wie ich es vor fünfzig Jahren gelernt habe.
Er fährt fort:
„Irimi-Tenkan ist Sabaki. Die ultimative Essenz des Aikido liegt im Tai-sabaki. Du musst Sabaki üben. Es ist wichtiger als Waza. Gute und spontane Waza ist eine Folge von gutem Tai-Sabaki (Tai-no-hanka). Wirst Du angegriffen, gibt es nur eines, was Du tun musst: Nicht vor ihm stehen. Irimi-Tenkan ist fundamentales Sabaki. Sabaki ist das Herz von Aikido. Du musst Ki und Kokoro erlernen. Kokoro ist die Mitte, welche sich wie ein Spirale dreht. Die Drehung des Kokoro wird durch Ki angetrieben. Ki und Kokoro müssen daher in Harmonie sein und eins werden. So kannst Du eins mit Deinem Angreifer werden. Denke darüber nach.“ Diese einfachen und klaren Anweisungen müssen nicht kommentiert werden; sie müssen im Dojo und außerhalb des Dojos geübt werden. Es folgen technische Hinweise:
„Wer sein Zentrum bewahrt, kann nicht von Dir geworfen werden. Dein Ki steigt in den Himmel auf, doch versuchst Du ihn zu werfen, dann senkst Du Deinen Arm und der Ki-Fluss wird unterbrochen. Du musst Dein Ki fließen lassen und nicht verweilen, um zu werfen. Fu-Sui no Ki ist das Ki von Wind und Wasser im Aikido. Es existiert nicht auf der Erde, sondern im Himmel. Es ist ein wundersamer Teil des Aikido und schwierig zu verstehen.“ Waza sollte auf formloser Energie gründen. Ki ähnelt Schall, der vibriert und nachhallt. Das nennen wir Hibiki. Ohne Hibiki kann Dein Ki nicht auf andere Lebewesen übertragen werden. Mit Hibiki führst Du Deinen Angreifer in Deine Bewegung. Du nimmst ihm sein Ki und wirst eins mit seiner Energie, denn sonst kann keine Harmonie (Ai) erlangt werden. Ai kann nur erlangt werden, wenn Dein Ki und das Ki Deines Angreifers miteinander im Einklang stehen. Schönes Hibiki ist ein Result richtiger Atmung. Über Kokyu spreche ich später.“ Haben Sie schon einmal bemerkt, dass die Kanji von Aiki rückwärts gelesen „Kiai“ ergeben? Im Aikido kann der Kiai still sein, doch er muss mit dem Ausatmen zusammenfallen. Während einer längeren Technik muss die Ausatmung im Einklang mit der Handlung stehen. Sobald die Technik Kime erreicht, soll der noch verbliebene Atem kräftig ausgestoßen werden. Das ist ein Kiai.
Um dem Angreifer das Ki zu nehmen (so O-Senseis Worte), muss Atemi geübt werden. Ate kann, auch wenn er nicht physisch ausgeführt wird, mit Ki und Konzentration des Geistes vollführt werden. Explosionsartig erreicht Ate den Geist des Angreifers, noch bevor dessen Angriff sich voll entfaltet. Ich nennen dies den „Geistes-Schlag“ (mind-strike) oder „Schlag mit dem Schwert des Geistes“ (cut with the sword of the mind). Ate ist keine rituelle, bedeutungslose Bewegung.
Er fährt fort:
„Ki wird nur bei fließen, wenn du richtig atmest. Ein ist schwierig Ki ohne Kokyu-ryoku zu meistern. Viele Menschen sprechen über Ki, doch wenige wissen, was es ist. Ki ist ein Bestandteil von Kokyu. Ki ist alles. Dein ganzes Sein muss aus Ki bestehen. Um das Prinzip des Ki zu meistern, musst du wissen, wie du Kokyu nutzen kannst. Ki kann ein- und ausgeatmet werden. Während deiner Übungen solltest du dies lernen. Durch Einatmen kannst du nicht werfen. Energie fließt während des Ausatmens, wenn die Atmung im Einklang mit der Waza steht. (Dies ist das Konzept des Kiai, über das ich oben sprach.) Wirfst du in eine Richtung, dann solltest du nicht in eine andere Richtung schauen. Schaue in die Richtung, in die sich dein Ki bewegt. Du musst in die Richtung schauen, in die dein Ki fließt wird. Aikido ist Jiko-Tansei no michi (der Weg der Erkenntnis). Es ist wichtig diese Erkenntnis zu erlangen. Lerne die Essenz des Einen und verstehe zehntausend Dinge, die dem gleichen Prinzip folgen. Dann erschaffe Waza. Schaffe Waza nach deinem Belieben, doch achte darauf, dass die Technik frei von Suki sein muss. Vergiss nicht dieses zentrale Prinzip.“ Es ist sehr einfach, „Eins“ mit dem Angreifer zu werden und mit ihm im Einklang zu stehen: Man muss nur sein Ego aufgeben; und einige Ideen, die das Ego erschafft. Wahres Aikido zeigt uns klar und deutlich, wer wir sind und welches die Grenzen des Käfigs sind, das wir Ego nennen. Der einzige Feind sind wir selbst. (Masagatsu-Agatsu Katsu-Hayabi). Wir können nur dann wirklich in diesem Augenblick sein, wenn wir erkennen, dass die Unterscheidung zwischen uns und anderen aufgeben müssen – wir entwickeln ein Bewusstsein, das es erlaubt, jeder Lebenslage in Freiheit und frei Gefühlen wie Angst, Wut und Hass zu begegnen. Dieses Bewusstsein der Nicht-Anhaftung (Mu-ju-shin) gleicht einem Spiegel, klar und unversperrt ist es in Harmonie mit allem was ihm begegnet. Dringt dieses Bewusstsein in Ihren Alltag ein, betreten sie den Pfad der Harmonie, den Do des Aikido. Wenn Sie jedoch träumen und im äußeren Anschein der Dinge befangen sind, erfahren Sie nicht die Wirklichkeit. Sie sind die Wirklichkeit. Wenn Sie dies erkennen, dass ihre Existenz im Nichts liegt, darin, dass Sie Nichts sind (nicht eine einzelne Person), dann sind Sie (potentiell) alles.
Wir sollten uns nicht mit einer „So tut man das bei uns nicht“-Haltung zufrieden geben, die eine Wand um uns errichtet, so dass unser Aikido nicht mehr wachsen kann. Ein wahrer Kampfkünstler zeichnet sich durch beständigen Wandel, Verbesserung und Entwicklung aus.
Ich habe das Glück, Tohei Koichi-Sensei zu meinen Lehrer zählen zu dürfen. Damals war er der einzige 10. Dan und Chefinstruktor am Hombu-Dojo. Tohei-Sensei hat viel dazu beigetragen, Aikido im Westen zu verbreiten; ohne ihn hätte das Aikido vielleicht nicht die Wurzeln geschlagen und sich entwickelt, wie wir es heute sehen. Er wird nicht gebührend gewürdigt. Das Aikikai-Hombu benimmt sich, als hätte es ihn nie gegeben. Wie auch immer, Tohei-Sensei war einer der besten Ki-Lehrer und ich habe viel von ihm gelernt. Im Hombu wurden keine speziellen Ki-Techniken unterrichtet. Man war der Auffassung, dass sich das Ki im Laufe der Trainingsjahre von selbst entwickeln würde. Seine [Toheis] Methoden sind nützlich und es wert geübt zu werden.
O-Sensei und Tohei-Sensei haben viele Dinge gesagt, die ich nicht verstand und die mich damals auch nicht sonderlich interessierten. Ich war jung, wollte Techniken lernen, daher ignorierte ich ihre damaligen Vorträge. Jetzt – nach 50-jährigem Studium aller Aspekte des Aikido – ist mir, als hätte ich diese Dinge selbst entdeckt, doch ich weiß, dass die Saat dafür vor diesen vielen Jahren gelegt wurde, doch war ich damals nicht bereit ihre Lehren anzunehmen.
Ein Aspekt, der einen negativen Einfluss auf das Aikido hat, der für viel Disharmonie und politischen Unfrieden gesorgt hat, ist die heutige Einstellung zur Graduierung. O-Sensei hat sich nicht großartig im Grade gekümmert. Er selbst hatte keinen Grad; auch die Lehrer und Schüler im Hombu-Dojo nicht (mit Ausnahme von Tohei-Sensei). Sie erhielten einen Grad, wenn sie in den Westen gingen, wegen der Schüler im Westen. Die Kyu- und Dan-Grade sind eine relativ moderne Einrichtung, die von Jigoro Kano vom Kodokan Judo erfunden wurde. O-Sensei, oder besser gesagt das Hombu, übernahm diese Praxis dann, hauptsächlich um die Schüler aus dem Westen auszuzeichnen und ihr Interesse zu erhalten. Leider ist die Graduierung nun zu einer Form des Wettkampfes geworden. Da es nun einmal kein Shiai im Aikido gibt, um die Leute einzuordnen, hat die Rivalität um die Graduierung einen politischen Beigeschmack bekommen. Die Aikido-Organisationen verwenden das Graduierungssystem zur Kontrolle ihrer Mitglieder, um Geld einzutreiben und Legitimität vorzuschützen. Die Schüler sind sich ihrer Graduierung bewusst und glauben, die Gurtfarbe hätte eine Bedeutung. Manche politischen Graduierungen haben gar nichts mit technischer oder spiritueller Fähigkeit zu tun, sondern werden – so wie in allen politischen Systemen – aus völlig anderen Gründen verliehen.
Gäste oder Zuschauer fragen in meinem Dojo oft: „Wie lange dauert es, bis man den schwarzen Gürtel bekommt?“ Normalerweise reiche ich dem Fragenden dann einen Katalog für Sportartikel und erkläre ihnen, dass sie hier und auf der Stelle für 20 Doller einen kaufen können. Ich kenne mehrere Shihan (mich eingeschlossen), die einen weißen Gurt tragen. Wer du bist – auf der Matte und überall sonst – sollte offensichtlich sein.
Mittlerweile stehen mindestens fünfzig Aikido-Organisationen im Wettbewerb um Schüler. Das war nicht das, was der Gründer im Sinn hatte. Das japanische Hierarchien sind pyramidenartig aufgebaut. Wird die Spitze entfernt, entzweit sie sich und die beiden, kleineren Pyramiden haben nun also auch zwei Spitzen. Nun beginnt der Wettlauf der beiden Spitzen und Pyramiden um Größe. Dies geschieht durch Feindseligkeiten oder üble Bemerkungen bezüglich der Authentizität der anderen Gruppe. Das Verhalten ähnelt den aus der Wirtschaft bekannten Franchise-Kriegen, bei denen es ebenfalls um Marktdominanz geht. Was geschieht dabei mit dem Studium des Budo? Wen kümmert es denn, welche Organisation größer ist? Was richtet das mit Ihnen an und mit Ihrem Studium? Genau dadurch geht die spirituelle Reinheit des Budo verloren. Der ursprüngliche Grund, aus dem wir unser Lehren aufgenommen haben, geht verloren. Ich rate allen Schülern ernsthaft zu studieren, die eigenen Fertigkeiten zu verbessern, das Verständnis zu vertiefen und ein besserer Mensch zu werden. Kümmern Sie sich nicht darum, ob andere größer sind als Sie oder kleiner oder schneller oder langsamer. Nur Sie selbst zählen; Sie stehen für sich selbst ein ohne davon abhängig zu sein, sich mit anderen zu vergleichen. Die anderen werden nicht Ihr Leben leben, sondern Sie. Sie werden nicht an Ihrer Stelle sterben, sondern Sie. Wenn Sie die Worte O-Senseis gründlich lesen, dann werden Sie feststellen, dass er genau das sagt.
Wird fortgesetzt.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder. 29.07.2010.