Erschienen online unter dem Titel 'The Progression of Aikido Technique from Basic to Advanced'.
Ein sehr verwirrendes Feld im Aikido ist der Zusammenhang zwischen der fortgeschrittenen Ausführung und der einfachen Ausführung von Techniken. Viele Aikidoka kennen die Bilder, in denen Morihei Ueshiba ungestört zwischen Angreifern umhergeht, denen es offenbar nicht gelingt Hand an ihn zu legen, die aber stattdessen in alle Richtungen geworfen werden, und dies ohne größeren physischen Kontakt.
Interessanterweise gibt es keinen Konsens darüber, was O-Sensei, der Gründer des Aikido, tatsächlich tat, wenn er dieses Aikido in der Öffentlichkeit vorführte. Zwischen den vielen Aikido-Stilen und auch in der größeren Gruppe der individuellen Aikido-Lehrer, von denen viele direkte Schüler des Gründers waren, gibt es keine gemeinsame Linie, wenn es darum geht, den Fortschritt der Kunst des Aikido von den einfachen Grundlagen, die sich bei allen wenig unterscheiden, zu dem "Fortgeschrittenen"-Level zu beschreiben.
Bei manchen Lehrern sieht "fortgeschrittenes" Aikido genau so aus wie grundlegendes, nur geschmeidiger, müheloser, von Technik zu Technik fließend. Hier zeigt "fortgeschritten" nur den Grad des Mühelosigkeit und Entspannung, die der Praktizierende bei der Aufnahme und Weiterführung der Angriffe des Partners/Angreifers erreicht hat. Diese Lehrer scheinen nicht zu versuchen die "Form zu verlieren", so wie es dem Gründer offenbar gelang. Andere Lehrer hingegen halten den achtzigjährigen Morihei Ueshiba für den Repräsentaten der Quintessenz des Aikido und versuchen nun, die Formlosigkeit nachzuahmen, die der Gründer gegen Ende seines Lebens zeigte. Für diese Lehrer ist es wichtiger die Verschiebungen in Energie, Körper und Psyche des Partners zu erspüren, als eine gute, starke Technik zu entwickeln. Manche halten ein kraftvolles physisches Training gar für schädlich und gegensätzlich zu dem, was der Gründer beabsichtigte.
Das Problem dieser beiden Ansätze ist, das Aikido für O-Sensei ein Prozess war, der bis zu seinem Tode angedauert hat. Jene, die eine bestimmte Epoche des Gründers herauspicken und diese mit dem Begriff "orthodoxes" Aikido verknüpfen, missverstehen die Säulen, auf denen das Aikido dieser einzelnen Periode ruhte. Zudem ignorieren sie alles, was der Gründer danach noch entwickelte, was im Einzelfall noch Dekaden des andauernden Trainings bedeuten kann. Dies zu tun scheint eher persönliche Vorlieben zu zeigen, ohne eine besondere Rechtfertigung.
Diejenigen, die direkt an das Ende der Karriere des Gründers springen und seine fortgeschrittene formlose Technik als Vorbild für ihr Training nehmen, versuchen die Kunst zu verstehen ohne Verständnis der Grundfesten, auf denen das gesamte Gebäude ruht. Einige Lehrer behaupten, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssten, da der Gründer diese Arbeit für uns erledigt hätte, so dass wir sie eben nicht tun müssten. Dieses Argument könnte glaubhaft sein, wenn es denn in der Realität Beispiele dafür gäbe. Mir ist allerdings noch kein einziger Fall bekannt, in dem jemand ein "himmlisches" technisches Niveau erreicht hätte, ohne dieses auf sehr hartes physisches Training zu gründen. Nach meiner Erfahrung scheitern alle diese Versuche das eigene Verständnis direkt auf die Schüler zu übertragen, ohne dass sie die gleichen Prozesse durchlaufen (wie ihre Lehrer). Der Grund scheint auf der Hand zu liegen: Jede Einsicht und jede Eingebung, die zu einem Qualitätssprung im Trainingsniveau führt, ruht auf den Fundamenten des vorher erreichten Verständnisses. Ich habe noch niemanden gesehen, der die höchste Stufe des Trainings erreicht hätte, ohne die nötigen davorliegenden Stufen des mechanischen und physischen Trainings erklommen zu haben. Die Versuche führten die Schüler stets zu einer hohlen Bewegungsweise, der es an der nötigen Zielstrebigkeit fehlt, die Technik auf diesem hohen Niveau auszuführen.
Was ich also nun versuche darzustellen, ist der (in meinen Augen, bei meinem derzeitigen Trainingsstand) natürliche Verlauf und Fortschritt der Technik vom Einfachen -- ein gutes Verständnis der Körpermechanik; wie man seine Bewegung einsetzt, um Kraft zu entfalten; wie man diese Energie mit der eines anderen ohne Konflikt in Einklang bringt -- zum Fortgeschrittenen -- beruhend auf Aiki als Verbindungsglied zwischen dem Physischen und der Energie; dem Moment, in dem der Geist den Körper führt und in dem die Technik immer weniger physisch wird, sondern ein Ausdruck der Anwendung dahinterliegenden Prinzipien. Der Schüler des Aikido soll die Zusammenhänge dieser verschiedenen Stufen vom Leichten zum Schwierigen erkennen. Sie gelten gleichermassen für die Arbeit mit wie ohne Waffen.
Den ersten Level erreicht man durch statisches Training. Dieser Level macht einen mit Strukturen vertraut. Wie funktioniert der eigene Körper und wie der des Partners? Um diesen Level zu überwinden, muss die Mechanik der Kunst verstanden sein, die Jiu-Jutsu-Komponente sozusagen. Man muss lernen sich zu entspannen und die grundlegende "Geometrie" der Techniken verstanden haben. Während dieses Trainings ermutigen wir unseren Partner, so stark wie möglich anzugreifen, um ein Feedback darüber zu erlangen, wie weit unser "Verständnis" hinsichtlich unserer Technik reicht.
Der nächste Schritt (der oft vom ersten überlagert wird) ist, Techniken aus der Bewegung auszuführen. Während die Fähigkeiten, die durch das statische Training erlangt wurden, noch die volle Ausmerksamkeit benötigen, muss nun noch erlernt werden wie die korrekte Distanz ("Maai") und das korrekte Timing ("Deai") eingesetzt werden können, um die Energie des Angreifers zu neutralisieren. Das starke "Zentrum", das durch das statische Training erworben wurde, erweist sich nun als beweglich -- wo auch immer der Übende sich befindet, selbst in der Bewegung wird das Zentrum aufrechterhalten. In diesem Stadium erlaubt Nage dem Uke einen Angriff zu starten. Er nimmt ihn an und nutzt seine Bewegung, um sich dem Angriff anzupassen. Die Energie des Angriffs wird dann auf den Uke zurückgelenkt -- entweder in die Struktur des Uke, so dass ein Hebel angesetzt werden kann oder über die Balancepunkte des Uke hinaus, so dass ein Wurf folgen kann. Das Führen des Ki des Angreifers ist eines der Kennzeichen einer Aikido-Technik.
Von einem kämpferischen Standpunkt aus betrachtet ist der vorherige Level des Trainings darin begrenzt, dass dem Angreifer eine beträchtliche Macht eingeräumt wird indem dieser darüber entscheidet wann und wie angegriffen wird. Bedenkt man die menschliche Reaktionszeit (bei den meisten Menschen um eine halbe Sekunde), so ist diese Überlassung der Initiative ein großer Vorteil für den Angreifer. Das Problem besteht darin, dass a) von Anfang an, Nage nur reagieren kann und dass b) Uke durch weniger als vollen Einsatz oder Finten den Nage nach seinem Belieben führen kann, sogar den Angriff wechseln kann und so die begonne Technik nutzlos wird.
Auf der nächsten technischen Stufe wechselt die Initiative. Nage nimmt nicht einfach nur entgegen was der Uke anbietet. Er verwendet seine eigene Bewegung, um eine Reaktion des Angreifers hervorzurufen, ganz nach Nages Belieben. Wenn sich Nage entschließt bis auf Maai aufzuschließen, dann wird es einen Punkt geben, an dem Uke seinen Angriff durchziehen muss oder sich zurückziehen. Würde Uke keines der beiden zu tun, eröffnete er Nage damit die Möglichkeit Treffer zu landen. Da nun Nage den Zeitpunkt bestimmt zu dem der Maai-Punkt erreicht wird und somit die kritische Distanz, entfällt die Reaktionszeit, da Nage weiss, dass Uke reagieren muss. Dies ist für die Entwicklung effektiver Kampftechniken außerordentlich wichtig und muss stetig geübt werden. Der Unterschied zwischen dieser Stufe und der vorherigen ist, dass in der letzten Stufe Nage dem Uke die Initiative überließ und daraufhin durch seine Bewegung die Aufmerksamkeit des Uke führte. Nun beginnt er das Timing durch Kontrolle des Abstandes zu manipulieren, dadurch werden Überlegungen hinsichtlich der Frage, ob eine Technik schnell oder langsam ausgeführt wird, überflüssig. Der Praktizierende arbeitet außerhalb der Zeit, sobald er beginnt die Zeit und den Raum zu kontrollieren.
Während diese Stufen durchlaufen wurden, ist die Technik immer weniger physisch geworden und mehr und mehr werden die Prinzipien von Raum und Zeit genutzt, um die Bewegung des Angreifers zu formen. Auf der nächsten Stufe wird der Nage die Aktion nicht nur beginnen, um Uke Bewegung zu lenken, sondern zudem wird die Energie seiner Aktion genutzt, um die Antwort zu führen, die Uke darauf bietet. Auf dieser Übungsstufe reagiert der Uke nur noch auf den Nage. Nage kontrolliert die Aktion noch bevor überhaupt Aktionen stattfinden. Die Techniken scheinen leichter und mit mehr Energie ausgeführt, weniger kraftvoll und physisch, obwohl es natürlich möglich ist, die Technik kraftvoll auszuführen, wenn man will. Dies wird erreicht durch die Prinzipien des Atemi-Waza, nicht so sehr durch Hebel oder Würfe. Eine explosive und effektive Kampftechnik kann so erzielt werden. In der Praxis werden Atemi nicht eingesetzt, um Verletzungen hervorzurufen oder den Körper zu schädigen. Stattdessen soll die potentiell explosive Energie eine Reaktion des Uke hervorrufen; diese kann dazu dienen ihn abzulenken oder seine Energie umzulenken, von der Stelle fort, an der man eine Technik (z. B. einen Hebel) anbringen will; oder sie lenkt Uke ab, so dass sich eine Öffnung ergibt, die eine Folgetechnik erlaubt ohne dass man getroffen werden kann. Mit anderen Worten, auf diesem technischen Level handelt Atemi von der Führung der Aufmerksamkeit oder Energie des Partners, in Richtungen die man wünscht.
Wenn dieser technische Level erreicht ist, dann gibt es oft keinen physischen Kontakt vor einem Wurf. Eine Technik, die ehedem eine Antwort auf einen Haltegriff gewesen ist, wird nun so ausgeführt, dass es nicht mehr zum Fassen kommt. Es mag die Absicht zum Greifen geben oder auch nicht, aber die eigentliche Technik hat eine energetische Stufe erreicht, bei der ein Angriff von Nage "ausgehebelt" wird. Daraufhin übernimmt Nage die Kontrolle über das Zentrum des Angreifers, indem die Öffnungen des Angreifers (Suki) durch Bewegungen und Ablenkung der Aufmerksamkeit des Uke ausgenutzt werden. Der Attackierer wird ohne physische Manipulation, sondern durch Erschaffung einer Situation in der er sich wie gewünscht bewegt kontrolliert. Wird ein Atemi an der Stelle angebracht, die Uke einnehmen müsste, um seinen Angriff zu vollenden, wird Uke sein Gleichgewicht verlieren, wenn er nicht getroffen werden will.
Wenn dieser technische Level erreicht ist, wird die Technik eher durch die Anwendung von Prinzipien bestimmt, als durch physische Faktoren, wie dies auf einem einfacheren Level geschah. Eine Technik wir Ryote-Tori Tenchi-Nage zeigt beispielhaft das Prinzip der Teilung der Energie des Partners (geistig wie körperlich). Wenn die Technik ihren energetischen Ausdruck findet, ist der Ryote-Tori-Angriff nicht mehr nötig. Tatsächlich kann Tenchi-Nage dann zum Beispiel auch gegen einen geraden Fusstritt verwendet werden. Der Tenchi besteht darin, auf welche Weise die Aufmerksamkeit des Angreifers von seinem anvisierten Ziel von Nage abgelenkt wird, so dass Nage unversehrt bleibt. Aber diese Manifestation des Teilungsprinzips kann nicht erreicht werden, wenn nicht ein grundlegendes Verständnis der physischen Ausführung der Technik erlangt wurde. Dies kann nicht hinfortgedacht werden, ohne das der Erfolg entfiele.
Wenn den Aikido-Übenden die Techniken auf diese Art und Weise gezeigt werden, von den elementaren, physischen, statischen Versionen fortschreitend zu den energetischen, fließenden Versionen, kann diese Sichtweise den Schülern beim Verständnis der Herkunft und der Zielrichtung einer Technik helfen. Dies kann die Energetik der fortgeschrittenen Techniken entmystifizieren, da die Prinzipien aufgeteilt und einzeln gelehrt werden können. Ebenso offenbart es, welche Elemente wesentlich sind, da die Grundlagen einer Techniken zuerst erlernt werden, bevor eine schwierigere Version erlernt werden kann. Mit Hilfe dieser Methode können vielleicht mehr Studenten die höchsten Stufen dieser Kunst erreichen, die der Gründer des Aikido für uns schuf.
November, 2004
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder.