Erschienen in Aikido Journal #119 (2000) unter dem Titel 'Everything in Black and White'.
Es war wohl eine Weltpremiere, als kürzlich zwei hochrangige japanische Sensei in Straßenkleidung in unserem Dojo unterrichteten, während alle Schüler ihre Dogi und Hakama trugen.
Diese drastische Abweichung von der Kleiderordnung erklärt sich so: Diese Sensei waren im Urlaub und hatten eigentlich gar nicht vor zu trainieren. Ich habe sie erst kurz vor Beginn der Unterrichts zur Leitung der Übungsstunde überredet, so dass keine Zeit blieb, um passende Anzüge beizubringen.
Da bei uns alle Schüler und Meister Hakama tragen, unabhängig von der Graduierung, waren die einzigen nicht korrekt verhüllten Beine die der Lehrer. Das störte sie aber überhaupt nicht und sie haben dadurch auch keineswegs den Respekt der Schüler verloren, als sie ihre Ärmel hochkrempelten, ihre Schuhe auszogen und auf die Matte traten. Es wurde eine sehr entspannte und erfreuliche Übungsstunde.
Dies war ganz anders, als ich einmal in einem Dojo in Australien beim Unterricht zuschaute. Da mich niemand gefragt hatte, habe ich mich oder meinen Rang nicht zu erkennen zu gegeben.
Als ich also zusah, kam einer der Instruktoren auf mich zu und lud mich zur Teilnahme ein, obwohl in nur Straßenklamotten trug. “Wir sehen das hier nicht so eng”, sagte er, führte mich auf die Matte und stellte mich zu einem großen, bärtigen Kerl, der mit seinem ordentlichen weißen Dogi und seinem schwarzen Hakama höchst eindrucksvoll aussah.
Ich muss im Vergleich dazu ziemlich heruntergekommen ausgesehen haben und fühlte mich gleich in mehrerlei Hinsicht unwohl, denn es war außerdem noch Hochsommer und ich begann bald zu schwitzen.
Mein Partner nahm zunächst an, ich sei ein blutiger Anfänger und schien unzufrieden, mit mir trainieren zu müssen, wurde dann aber ziemlich ärgerlich, nachdem ihn mein erster Wurf ziemlich unsanft auf den Rücken befördert hatte. Ich hatte das nicht beabsichtigt, aber er war recht steif und liess sich führen wie eine Karre Ziegelsteine. Ein heißes Training folgte und ich war mehr Flüssigkeit als Festkörper, als ich mich nach dem Training in ein Taxi goss, um ins Hotel zurückzukehren. Dennoch hat es Spaß gemacht.
Es war das erste Mal, dass ich in Straßenkleidung trainiert hatte und inkognito obendrein, aber ich bin damit wohl in guter Gesellschaft, denn es gibt einige alte Fotos von O-Sensei, die ihn ohne das korrekte Aikido-Outfit nur in Hemd und Hose auf der Matte zeigen, Die Zeiten ändern sich und heute kann man, wie ich in einem Katalog nachlesen muss, mehr als $500 für einen Luxus-Aikidogi (nur die Jacke und die Hose, also ohne Hakama) ausgeben.
In einem neuen Buch über die Geschichte der Neuseeländisch-Japanischen-Beziehungen habe ich die überraschende Tatsache gelesen, dass einige der japanischen Einwanderer, die vor über 100 Jahren nach Neuseeland kamen, Jujutsu im Zirkus vorgeführt haben! Viele davon haben sich von diesen bescheidenen Anfängen zu anständigen Bürgern gemausert.
Dies ist doch ein scharfer Kontrast zu den heutigen Aikido-Instruktoren, die, wenn sie das Ausland besuchen, Business-Class- oder sogar Flugtickets Erster Klasse verlangen, zuzüglich einer erheblichen Gebühr und diverser Spesen. Das missgönnt man ihnen nicht, denn schließlich haben sie lange für ihre Anerkennung gearbeitet. Sicherlich können sie es sich auch leisten Luxus-Dogi zu tragen…
Auf der anderen Seite haben viele der Lehrer, die in Morihei Ueshibas Fussstapfen getreten sind, bei weitem nicht seine Größe, trotz ihrer manchmal das Gegenteil behauptenden Äußerungen, denn Demut ist nicht gerade ihre Stärke. [A.d.Ü. Dieser Absatz beinhaltet ein leider unübersetzbares Wortspiel.]
Weil du sagst, du seiest reich und wohlbegütert und hättest keine Not an jedwelchen Dingen, so weisst du doch nicht, was für ein armseliger Wicht du bist, arm, blind und nackt; ich rate dir: Nimm von mir Gold, vom Feuer geprüft, auf das du reich seiest; und weisses Kleid, auf dass du dich bedeckest und deine Nacktheit verborgen bleibt; und salbe deine Augen, auf dass du sehen mögest.
Offenbarung
Alle, die wir Aikido unterrichten, fragen uns dann und wann, wie weit unsere Imitation von O-Sensei gehen soll, da wir doch weit von seinem Level der technischen und spirituellen Perfektion entfernt sind.
Er überwand mit Leichtigkeit alle Arten physischer Herausforderung und sprach über den tieferen Sinn des Lebens mit einer Überzeugung, die sich aus eigener Erfahrung speiste. Wenn er sagt: “Aikido ist Liebe”, dann hat das eine starke Wucht, wohingegen die gleiche Äußerung bei anderen uns mit einem vagen Gefühl zurücklässt: “Das ist ja alles gut und schön, aber was bedeutet das?”
Wenn wir unsere Lehre mit der des Begründers vergleichen, dann fühlen wir uns leicht, als schmückten wir uns mit fremden Federn oder, um einen japanischen Ausdruck zu verwenden, “wir Sumo-ringen mit eines anderen Lendenschurz”.
Was wir tun, sieht vielleicht so aus, was wir sagen, hört sich vielleicht so an, aber den “Weg zu gehen” ist nicht so leicht. Vielleicht ist es ein Maß für die Größe O-Senseis, dass dieses Problem für die ihm Nachfolgenden besteht.
Ich erinnere mich, dass der verstorbene Doshu einmal nach einer Demonstration sagte: “Ich habe euch gezeigt, wie man mit mehreren Angreifern umgeht, aber ich behaupte nicht, dass ich das selbst könnte.” Das scheint mir ein lehrreiches Beispiel an Ehrlichkeit und Demut zu sein.
Bis dahin vollführen wir die Bewegungen, tragen die ordentliche weiße Baumwollkleidung und erreichen unter unseren Schülern eine gewisse Glaubwürdigkeit, obwohl wir wissen, dass wir vielleicht weit vom ursprünglichen Aikido entfernt sind, das wie verblassende Kopien von Kopien immer schwieriger zu entziffern wird, je weiter die Zeit schreitet. Es auf diese Weise zu betrachten kann deprimierend sein, aber gleichsam merkwürdig befreiend.
Obwohl ich ein Jünger Buddhas geworden bin, ist mein Herz noch nicht erleuchtet. Ich bin wie der verlorene Sohn, der seinen Vater im Stich läßt. Ich sehe, dass ich trotz vieler Übung das Gelernte nicht anwenden kann, ich bin nicht besser als ein Unwissender. Ich bin wie ein Mann, der über das Essen spricht, ohne jemals davon gekostet zu haben und jemals zufriedengestellt zu werden. Wir sind in diese beiden Hindernisse verstrickt: Wissen und Lernen einerseits, Ärger und Leiden andererseits. Ich sehe, dass dies an unserem Unverständnis der ewig und friedlichen Natur des wahren Geistes liegt. Bitte, mein Gott Tathagata, habe Mitleid mit uns. Zeige uns den geheimnisvollen erleuchteten Geist und eröffne unsere wahren Augen für die Erleuchtung.
Die Surangama-Sutra
Es heißt, die Aufrichtigkeit sei eine wundervolle Sache; wenn man sie vortäuschen kann, dann hat man es geschafft.
Es ist unvermeidbar, dass jedes Aikido-Training eine Art Täuschung ist. Wir zeigen den Leuten die ganze Zeit, wie irgendetwas gehen könnte, während wir uns gleichzeitig der Kritik der Wettkampf-orientierten Künste (oder Sportarten) ausgesetzt sehen, bei denen wenigstens etwas beweisbar ist, durch Sieg oder Niederlage.
Die “Sicherheit”, die im Gewinnen eines Wettbewerbes liegt, wird im Aikido durch völlige Unsicherheit ersetzt, denn man kann nie gewinnen.
Und selbst wenn wir versuchen die wahre Bedeutung des Trainings zu vermitteln, zum Beispiel indem wir O-Sensei zitieren, so könnte man uns doch leicht des “Predigens” beschuldigen. Das mag der Grund sein, warum viele Lehrer eine eindimensionale Einstellung annehmen, die das physische Training allein betont. Andere sind dagegen recht gut im Predigen und vernachlässigen darüber die Wichtigkeit der Technik.
Beide Seiten verfehlen zu erkennen, dass das einzig schwarz-weiße im Aikido die Uniform der Praktizierenden ist. Wenn wir eine Technik vorführen, dann tun wir nur so, als wären wir nicht in einem Wettkampf, als wäre unser Leben wirklich bedroht. Aber wenn wir den alten Mann zitieren, hoffen wir, eines Tages seine Worte wirklich zu verstehen oder einen Einblick in seine Einsichten zu gewinnen.
Während die Befürworter einer extremen Härte (das schwarze Team) entschlossen sind, jede Technik “effektiv” anzuwenden, auch wenn dies nicht möglich ist, tauchen die spirituellen Extremisten (das weiße Team) allzu tief in die religiösen Sphären und sehen dabei etwas dümmlich aus, während sie ihre Shinto-Zauberstäbe schwingen.
Wie weit ist zu weit? Aus einem kürzlich gelesenen Buch, Der große Onisaburo Deguchi (alias Gott?), gewann ich die Einsicht, dass die Übernahme der Omoto-Religion (deren Führer Deguchi war) wohl zu weit geht. Es sei denn, man ist Willens den Lehren eines Mannes zu folgen (so wie O-Sensei es tat), der sein Haar unter einem Haarnetz trug, der sich Dalai Lama, Genghis Khan und Buddha nannte und der nichts mehr mochte, als mit einer Motorrad-Eskorte Ausflüge zu unternehmen!
Der amerikanische Experte für Vergleichende Mythologie, Joseph Campbell, warnte vor den verschiedenen Ansätzen, die verschiedene Kulturen bei der Suche nach der Wahrheit verfolgen. Er denkt, dass es zwar wichtig für die Angehörigen des westlichen Kulturkreises sei, die Wege des Ostens zu studieren, aber dass nur wenig gewonnen werden könnte, indem man “ständig einen Turban trägt”.
Die Menschen neigen dazu die Dinge, die nicht schwarz-weiss sind, nicht zu mögen und das Selbst-Studium ist von Natur aus obskur und auf den ersten Blick unsichtbar. Da potentielle Schüler in unserer Marketing- und Konsumkultur aufwachsen, wollen viele von ihnen präzise wissen, was man durch das Aikido bekommen kann und sie sich kaum bemühen zu ergründen, welche Mühen von ihnen selbst aufgebracht werden müssen, um auch nur die Oberfläche dieser Kunst anzukratzen.
Wenn ihre Ansprüche an ihre Selbstverteidigungs-Fähigkeiten durch Aikido nicht erfüllt werden, dann wollen sie wenigstens alles über den “spirituellen” Inhalt lernen und darüber, wie sie durch das Verdrehen von Armen Erleuchtung finden. Wenn man mit solchen Fragen konfrontiert wird, weiss man kaum was man antworten soll. Je mehr wir darüber sagen, desto unbekannter sind die Gefilde, in die wir uns begeben und desto mehr fühlen wir uns wie Schwindler.
Es sei denn, wir machen unseren Schüler klar, dass wir keine Lehrer, Prediger, Meister oder Gurus sind; dass wir nicht alle Antworten besitzen, sondern wir ihnen lediglich die Hand reichen, um zu einer lebenslangen Studienreise aufzubrechen, bei der sie selbst die Verpflichtung haben, die Arbeit zu tun.
Wir müssen weder O-Sensei noch jemand anderen kopieren, sondern die Lehren “internalisieren”, sie zu unserem Wesen hinzufügen und versuchen die menschlichen Eigenschaften zu nähren, auf welche die Worte der großen spirituellen Meister hindeuten.
Die Schüler können zwar die Aussprüche des Begründers lesen, sich mit der Geschichte des Aikido befassen und dann feststellen, ob dieses Training ihnen bei ihrer Mission hilft. Aber niemand behauptet, dass es einen Königsweg gibt.
Den gibt es im ganzen Leben nicht. Der Mensch lebt in einem permanenten Widerspruch zwischen äußeren Sein, dass darauf aus ist ein produktives und effektives Mitglied der Gesellschaft zu sein und seinem inneren Seelenleben, dass seine verborgenen Potentiale als Mensch ausschöpfen möchte.
Bei vielen von uns ist das äußere Selbst so beschäftigt mit Arbeit, Lernen und dem Aufbau eines Image, dass wir wir die Existenz des inneren Selbst kaum bemerken. Unsere materialistische Gesellschaft belohnt nicht das letztere – die Anerkennung bleibt ausschließlich dem ersten vorehalten.
Um aber ein vollständiger Mensch zu sein, benötigt man beides und die meisten von uns spüren dies auch hin und wieder, nur um dieses Gefühl dann schnell wieder zu vergessen.
Der Anblick des langen zu bewältigenden Weges beim Aufbau eines eigenen Selbst kann natürlich ungemütlich sein, aber diese Wahrheit zu erkennen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hier ist ein übergroßes Ego fehl am Platz und wir sollten uns nicht schämen zuzugeben, wie wenig wir wissen.
Die Schüler des Aikido mögen die Kunst vielleicht aufgrund von vagen Gefühlen; diese sind aber gewiss nicht in schwarz-weiss gezeichnet. Diese Intuition sollte man respektieren und pflegen. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen, Selbsterkenntnis kannst nicht von einem Dritten erworben werden.
Wir sitzen alle in einem Boot, ob wir nun schicke Klamotten tragen oder nicht. Obwohl unsere Körper durch Form und Größe unterschiedlich scheinen, so sind wir doch unter unserer schwarzen und weißen Kleidung aus dem gleichen Fleisch und Blut.
Dank der physischen Natur des Aikido-Trainings sind die Lehrer vom einfachen Predigen entbunden, aber das bedeutet nicht, dass man dem Training eine innere Bedeutung absprechen kann.
Es ist unserer Aufgabe unseren Schülern den “Do” des Aikido besser zu zeigen, so dass sie mit der Zeit durch das Training in sich selbst einen kleinen Anteil der universellen Wahrheit finden.
Die Schüler zu ermutigen die Herausforderung anzunehmen zu sein was man sein kann (oder was sie schon sind, ohne es zu wissen); die wahre Essenz dessen was hinter dem eigenen Image steckt zu entdecken; einen Blick auf die wahren Beziehungen aller Menschen miteinander zu werfen (um zu sehen, dass wir dazugehören); und unsere Achtsamkeit für den eigenen Mikrokosmos zu schulen, der wir selbst sind. Alle diese Dinge stehen uns als Lehrern und Schülern offen.
Der Weg liegt zu unseren Füssen. Lasst uns andere ermutigen ihn mit uns zu gehen.
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Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder 6/2004.