Erschienen in Aikido Journal #109 (Herbst/Winter 1996) unter dem Titel "Ends and Means: Why are we training?".
Das Telefon hatte gerade geklingelt und ein junger Mann befragte mich ausführlich über Aikido. Wie gut schlägt es sich gegen andere Kampfkünste? Wie lange braucht man, um es zu erlernen? Was passiert, wenn mich ein Schwarzgurt eines anderes Stils herausfordert? Und so weiter. Das war der klassische Katalog an Bedenken, die viele aufstrebende Kampfkünstler quälen, und als ich ein Lachen nicht mehr zurückhalten konnte, herrschte am anderen Ende der Leitung gequälte Stille.
Ich entschuldigte mich für meine unbeabsichtigte Fröhlichkeit und fragte nun meinerseits, ob er in jüngster Zeit von einem Karate-Experten angegriffen worden sei. Was er glaube wie lange es dauere irgendetwas zu erlernen, wie zum Beispiel Klavier zu spielen. Und warum er so dringend persönliche Unüberwindbarkeit anstrebte.
Derartige Bedenken werden natürlich nicht nur von Anfängern gepflegt. Man begegnet nicht selten Aikidoka mit langjähriger Erfahrung, die sich anderswo umschauen, um "effektivere Kampfkünste" zu erlernen, um sich gegen die vermeintlichen "Schwachpunkte" des Aikido zu wappnen. Dann gibt es da noch die Fanatiker, die ihre eigene tiefe Verunsicherung überkompensieren indem sie Grobiane werden, die sich selbst beweisen wollen und das "Funktionieren" ihres Ansatzes zu beweisen glauben, indem sie den Kopf eines unglücklichen Uke in die Matte rammen oder mit Sankyo eine Hand derart quetschen, dass sie für Tage oder Wochen schmerzt.
Das andere Extrem sind jene, die O-Sensei hinsichtlich "Liebe" und "Harmonie" zitieren, natürlich ohne seine tiefen Einsichten zu teilen; dies sind jene, die behaupten, Aikido sei gar keine Kampfkunst.
Es ist beinahe, als hätte O-Sensei unter einer Multiplen-Persönlichkeitsstörung gelitten, die ihn manchmal in Arnold Schwarzenegger verwandelt und manchmal in Mutter Teresa, mit dem Resultat, dass die ihm Nachfolgenden polarisiert sind, jederzeit bereit ein Zitat oder eine Tat des Großmeisters vorzubringen, die ihren Standpunkt belegt.
Wie wohl die meisten normalen Aikidoka tendiere ich dazu, zwischen den Extremen hin und her zu schwanken, einen versöhnenden Pfad suchend, der sich mit den Realitäten verträgt. Ich bin froh über die Muße zu verfügen, um über dieses ernstzunehmende Problem nachzudenken, denn wir Menschen müssen eine Antwort auf die Gewalt finden oder wir werden ausgelöscht. Im Mikrokosmos der Aikido-Welt ringen wir mit den Fragen, die sich - wenn man sie weit genug treibt - mit der Bedrohung allen Lebens auf diesem Planeten befassen. Bedenke für einen Augenblick die nukleare Frage.
Nuklear-freies Neuseeland
Neuseelands "nuklear-frei" Politik hat sich als ihrer Zeit voraus erwiesen - der sowjetische Block ist zusammengebrochen und somit das Hauptargument der westlichen Mächte für nukleare Abschreckung beseitigt. Als wir vor zehn Jahren per Gesetz den Atomausstieg beschlossen und so den Zorn der Vereinigten Staaten auf uns zogen, indem wir ihren Kriegsschiffen den Zugang zu unseren Häfen verweigerten, da sie weder bereit waren "zuzugeben, noch abzustreiten", dass sie nukleare Waffen an Bord trugen, wurden wir von allen Seiten belächelt und schikaniert.
Ich bin froh sagen zu können, dass Neuseeland allen Versuchen widerstand diese Art des internationalen Totalitarismus zu akzeptieren gegen den wir uns angeblich zu verteidigen hätten. Die "Macht des Stärkeren" wird von manchen einfach in der gleichen Weise hingenommen wie die Annahme Aikido solle realitätsnah ("combat-effective") sein, unabhängig von weiteren Faktoren.
Sind Krieger wirklich nobel?
Da ich von Natur aus eher ein Zweifler als ein Krieger bin, möchte ich dennoch nicht respektlos gegenüber letzteren erscheinen, wenn ich sage, dass ich den kämpfenden Menschen nicht für den Inbegriff der Zivilisation halte. Ich bin sicher, dass ein Samurai, der sich im Jahrhundert geirrt hat und der plötzlich vor mir auf den Gehweg springt, mich dazu brächte die Straßenseite zu wechseln oder mich augenblicklich vernichten würde.
Nennt mich einen Feigling oder Realisten, aber ich erwarte nicht, dass mein Häuflein an Aikido-Dan-Graden mich in so einem Fall von schmählicher Prügel oder vorzeitigem Dahinscheiden erretten kann. Und trotzdem liege ich nicht nachts wach, um mit meinen niederen Unzulänglichkeiten zu ringen, und bin dankbar dafür, dass wir in recht zivilisierten Zeiten leben, in denen es nicht notwendig ist, sich jeden Moment gegen einen physischen Angriff zu verteidigen.
Der Adel des Kriegers mag etwas bedeutet haben, als es noch keine Schusswaffen gab und einen kriegerischen Geist zu entwickeln mag recht erstrebenswert sein, aber ich denke, dass es in der reinen Aneignung der technischen Fähigkeit zu kämpfen oder zu töten kein Anlass für Stolz liegt.
Es mag extrem erscheinen Budo mit "der Bombe" zu vergleichen, aber ich denke, dies ist die logische Schlussfolgerung, wenn man auf Effektivität fixiert ist. Selbst wenn es möglich wäre verschiedene Formen von Budo miteinander zu vergleichen, lassen wir individuelle Fähigkeiten beiseite, was nur schwer vorstellbar ist, würde die Jagd nach der effektivsten Form nur zu noch schlimmeren Konflikten führen - während Aikido uns doch in die entgegengesetzte Richtung führen sollte.
Als unser Premierminister David Lange während der Hoch-Zeit der oben erwähnten nuklear-frei Debatte gefragt wurde, was passieren würde wenn die UdSSR eine Atombombe auf Neuseeland werfen, die nicht mehr vom nuklearen Schutzschirm der USA geschützt würden, antwortete er sofort: "Wir würden gebraten."
In einem Atomkrieg würde offensichtlich jeder gebraten, und es ist sicherlich lebensnotwendig, dass Länder und Individuen Alternativen zur immer weiter eskalierenden Gewalt finden, welche nur in einer Situation enden kann, in der alle verlieren.
In einem nuklearen Krieg würden offensichtlich alle gebraten, und es ist für alle Länder wie Individuen sicherlich lebenswichtig Alternativen zur ewig eskalierenden Gewalt zu finden, welche nur dazu führen wird, dass alle verlieren. Aikido ist ein Weg dieses Problem auf einer individuellen Stufe anzugehen. Nur wenn wir Frieden in uns selbst finden, werden wir Frieden auch in der Gesellschaft im Ganzen erschaffen können.
Hüte dich vor den Humorlosen
Ich möchte ernsthaften Kampfkünstlern nicht zu nahe treten wenn ich bemerke, dass mein Motto "Die Feder ist mächtiger als das Schwert" ist, aber ich denke, zu viele Aikidoka haben falsche Prioritäten, wenn sie intensiv über die Effektivität von Aikido-Techniken streiten, während sie versäumen sich mit der Philosophie der "Kunst des Friedens" zu beschäftigen.
Nebenbei bemerkt, ich hoffe meine Leser vergeben mir Rechtschreibfehler in meinen Artikeln [A. d. Ü.: Diese Hoffnung teilt der Übersetzer]. Ich vertraue darauf, dass niemand einwenden wird, dass meine gelegentlichen humoristischen Versuche dem Thema eine unangemessene Leichtigkeit verleihen, während das Thema doch todernst sein sollte. Mir fällt auf, dass eine der Eigenschaften eines wahrhaftig fehlgeleiteten Kampfkünstlers der Mangel an Sinn für Humor ist.
Natürlich können Worte auch in die Irre führen und es ist schwierig zu schreiben, wenn man immer auf der Hut sein muss - vor möglichen Missverständnissen, dem Bruch von Etikette oder politischer Korrektheit, nicht zu vergessen, interkultureller Verwirrung.
Der "eheliche" Kampfkünstler [unübersetzbares Wortspiel "marital"=ehelich, "martial" kriegerisch, A.d.Ü.]
Es kann sogar in der eigenen Kultur peinliche Missverständnisse geben. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich auf dem Programm eines Rotarier-Clubs als "Experte in ehelichen japanischen Künsten" [s.o.] ausgewiesen war. Ich begann meine Rede indem ich anmerkte, dass dies wohl ein Rechtschreibfehler sein müsste, so dass ich im weiteren Vortrag über "eintretende Techniken" reden könnte ohne dass jemand auf falsche Gedanken kommt. Die Rotarier waren ganz aufgeregt, als ich eine Demonstration geben wollte und ich weiß bis heute nicht, ob nicht doch welche den Druckfehler wörtlich genommen haben oder ob sie nur ein bisschen zu sensibel für den von mir verdrehten Arm des Vorsitzenden waren.
Verbale Missverständnisse können auch auf der Matte auftreten. Ich wollte einmal eine Mune-Mochi-Technik mit einem Mädchen mit beträchtlicher Ausstattung üben, die ein T-Shirt trug anstelle einer Dogi-Jacke. Unbewusst brachte sie ein (oder zwei) erhebliches Understatement vor, in dem sie sagte: "Entschuldigung, aber da ist nichts zum festhalten."
Es ist kein Wunder, dass es viele Missverständnisse gibt, sobald man mit Angehörigen anderer Kulturen spricht und versucht mit Japanisch und Englisch zu arbeiten.
Während eines Empfangs in einer Botschaft in Tokyo beobachtete ich einen japanischen Gast, der versuchte einem Neuseeländer zu erklären, dass er ein Kendo-Enthusiast war. "Ich fechte gern", versuchte er zu sagen, aber unglücklicherweise sprach er das Wort wie "fische" aus, währenddessen er die Geste der Hebens und Schlagens mit einem imaginären Schwert ausführte. Es wurde sofort angenommen er spreche vom Fischen, so dass sein Gesprächspartner dieses Thema aufgriff, sehr zum Erstaunen des Japaners, der - eine gute Imitation einer überraschten Wasserschildkröte darbietend - daneben stand.
Bei einer anderen Gelegenheit versuchte ein höherer Lehrer in einem Tokyoter Dojo das Konzept der unsichtbaren Kraft des Ki zu erklären. Ein ausländischer Schüler schlug die Analogie eines Laser-Strahls vor. Aufgrund der japanischen Eigenheit, dass "L" und "R" kaum unterschieden werden können, wurde angenommen, dass er "Razor" (Rasierklinge) gemeint hatte und so entbrannte eine bizarre Diskussion darüber, ob die Anwendung von Ki im Aikido mit der Drehbewegung der Köpfe eines Rasierapparates verglichen werden könne.
Das mag belanglos sein, aber ich glaube es gibt für Aikidoka viel schwerwiegendere interkulturelle Missverständnisse. Das Überwinden der Sprach- und Kulturbarrieren entstellt Informationen häufig bevor sie den Aikido-Schüler erreichen. Für diejenigen, die nach Begründungen für die scheinbar irrationalen Aspekte der Kunst hungern, haben die Worte der Meister oder Experten ein großes Gewicht, selbst wenn sie vielleicht unsinnig sind.
Das "O-Sensei hat gesagt..."-Syndrom
Es gibt das "O-Sensei sagte..."-Syndrom, in welchem O-Sensei verwirrende und widersprüchliche und aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen zugeschrieben werden, nur um allerlei zu rechtfertigen. Es gibt zum Beispiel die Behauptung "Aikido besteht zu 90 Prozent aus Atemi", woraus man schließen müsste, dass die meisten Dojos ein verkehrtes Verhältnis pflegen oder sogar, dass man vielleicht besser gleich zum Karate wechselt, welches mit 100 Prozent Atemi auch näher dran wäre. Man kann nur annehmen, dass O-Sensei tatsächlich meinte, dass "Atemi ein wichtiger Bestandteil der meisten Techniken ist und nicht vergessen werden darf" [...].
"Es gibt kein Kamae im Aikido" ist ein weiterer solcher Kommentar, der sicherlich der Anmerkung bedarf.
Ein häufiger auftretendes Rätsel, welchem man bei japanischen Senseis begegnet, behauptet, dass diese oder jene Bewegung oder Griff "sehr wichtig" ist, ohne jemals zu erläutern warum. Da es kein konsistentes Übereinkommen zwischen den Senseis über diese "wichtigen" Schritte gibt, kann man den Schülern ihre Verwirrung durchaus verzeihen.
Ich neige dazu diese wörtlichen Erklärungen immer mit einem Körnchen Salz zu betrachten und versuche eher zu beobachten was geschieht und dann [die Technik] selbst herauszufinden. Aber ich nehme nicht an, dass all dies in einem kämperischen Kontext Sinn macht, so dass ich mich damit zufrieden gebe ein gewisses "Feeling" anzustreben.
Es ist nicht wirklich wahr, dass der japanische Ansatz "nicht-verbal" ist - einige japanische Meister sind sogar ziemlich gesprächig -, aber diese Aussage ist wahr in dem Sinne, dass deren verbale Erklärungen besser ignoriert werden und sollten als nicht wörtlich gemeint hingenommen werden, was für einen großen Teil der japanischen Sprache ohnehin gilt. Japanisch wurde in offensichtlichem Widerspruch eine "nicht-verbale Sprache" genannt, da sie so viele vage und mehrdeutige Ausdrücke beinhaltet, die schwierig zu übersetzen sind und sich genausowenig hinsichtlich ihrer genauen Bedeutung festlegen.
Hühner und Eier
Ich vermute, vielen Lehrern eröffnet sich eine mündliche Erklärung für ihr Tun erst nachdem sie die Techniken gemeistert haben, nicht zuvor; dies gilt - da bin ich sicher - auch für viele Nichtjapaner, die ihr Handwerk in Japan erlernt haben. Vielleicht haben sie von einem Sensei gelernt, der einen nicht-verbalen Ansatz verfolgt hat oder haben zudem noch ein Sprachproblem. Aber selbst wenn nicht, entstammen sie einem typisch japanischen Lernumfeld, in welchem der Lehrer nie in Frage gestellt wird und sein Wort die finale Autorität darstellt. Es wird von dir erwartet alles zu akzeptieren was dir gesagt wird und weiter zu trainieren - ein Ansatz mit dem ich grundsätzlich übereinstimme.
Es gibt nichts schlimmeres als ein Dojo voller "Was-wäre-wenns": "Was, wenn der Uke loslässt?", "Was, wenn er nicht loslässt?" "Was, wenn er einen an den Kopf tritt?", etc., etc.
Die Fragen an sich mögen harmlos erscheinen, aber mir scheint, dass sie allein durch das Training gelöst oder unwichtig werden und dass es einen klaren Zielkonflikt zwischen einerseits dem Drang seine eigene Unüberwindlichkeit zu beweisen, mit dem damit einhergehenden endlosen Konkurrenzgehabe und andererseits dem Wunsch Aikido zu erlernen, den Weg der Harmonie. Es geht nicht in beide Richtungen.
Zu versuchen stärker als alle anderen zu sein ist sicherlich ein unproduktives, letztlich nutzloses Unternehmen. Das Erlernen einer Fähigkeit um ihrer selbst willen kann wahrscheinlich keinen großen Schaden anrichten, aber wenn wir dem Weg des Aikido folgen, wenn Frieden unser Ziel ist und wir Gewalt ablehnen, dann gehen wir den richtigen Weg und wandeln uns zum Besseren, so wie es in O-Senseis Philosophie angelegt ist.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel, aber die Mittel qualifizieren sicherlich das Ziel.
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